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Die romantischen Jahre

Erschienen am 15.01.2013
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783492301480
Sprache: Deutsch
Umfang: 480 S.
Format (T/L/B): 3 x 19.1 x 12.1 cm
Einband: kartoniertes Buch

Autorenportrait

Paul Ingendaay, geboren 1961 in Köln, lebte als Schriftsteller und Journalist lange in Madrid. 1997 erhielt er den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik, 2006 wurde er für sein Debüt 'Warum du mich verlassen hast' mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Nach dem Roman 'Die romantischen Jahre' und dem Erzählungsband 'Die Nacht von Madrid' erschienen von Paul Ingendaay zuletzt die 'Gebrauchsanweisung für Andalusien' und der Roman 'Königspark'.

Leseprobe

Für Sue, Greta und Julián   Chantal und Pauline   Wenn ich über die Kempener Straße in Kleinhoek einfahre, kurz bevor ich die Niers überquere, denke ich manchmal: Nur tausendfünfhundert Kilometer weiter, und ich wäre in Weißrussland. Und die Verlängerung der Wilhelm-Bolten-Straße in Richtung Nordwesten würde mich irgendwann nach Grönland bringen. Doch am liebsten schaue ich vor meinem Büro die Niederstraße nach Süden hinunter, bis sie beim Schuhhaus Schüth eine leichte Linkskurve macht. Anderthalb Tagesreisen, sage ich mir, und ich bin in der Provence. Und dann denke ich daran, wie mein Kumpel Motte und ich vor fast zwanzig Jahren in Südfrankreich auf Mädchenjagd gegangen sind, mit Pferden, Pistolen und allem. Eine tiefe Enttäuschung, würde Motte sagen. Ich denke an die Villa über den Hügeln, an meinen Vater, der uns in jenem Jahr seine schöne Freundin vorstellte, meinen Bruder Robert, der sich wie ein kleiner Erwachsener benahm, und an den Sommer 1979, meinen ersten Urlaub mit Führerschein.  Vormittags gingen wir zum Strand und brieten in der Sonne. Von der Villa aus sahen wir Palmen mit Stämmen, die aussahen wie Elefantenbeine, und weil sie in einer Doppelreihe gepflanzt worden waren und schnurgerade zum Meer hinunterführten, nannten wir sie Elefantenallee. Das war unser Weg zum Strand, ein staubiger Pfad mit Hundehaufen und verrottenden Früchten, gesäumt von mächtigen Palmen.  Am späten Nachmittag gingen wir zurück in die Villa, mit Sand im Haar, zum Duschen und Eincremen. Wir nahmen uns eine Stunde oder anderthalb, um das Nachlassen der Hitze und die länger werdenden Schatten zu genießen. Jeder von uns muss an etwas anderes gedacht, jeder dasselbe empfunden haben.  Kurz vor dem Abendessen legten Motte und ich unsere Bücher weg, um ein Kronenbourg aufzuknacken. Wir hielten das Bier in die Abendsonne und betrachteten die Welt durch das grüne Flaschenglas. Und tatsächlich schien alles leicht und sommerlich zu werden, nur durch den kurzen Blick durch unser Kronenbourg. Ich sah die Jahreszahl auf dem Etikett dieses alten Bieres, mit dem mein Vater mich ein paar Jahre zuvor hier in La Croix-Valmer bekannt gemacht hatte, und stellte mir die vielen Generationen junger Biertrinker vor, die schon mit einem Kronenbourg in der Hand über das unermessliche Universum nachgedacht hatten, so wie Motte und ich es taten. So deutlich wie kein anderes Geräusch jener Jahre höre ich das Schrammeln der Zikaden, das wie im Western klang, und sehe von der Terrasse der Villa aus, die mein Vater für vier Wochen gemietet hatte, zu den frühen Lichtern unseres kleines Strandes hinunter, ein paar schwach glimmende Punkte, die mit jeder Minute stärker wurden. Es war ein schöner Moment, wenn der Tag zusammengerollt wurde wie ein Segel und sich die Bewohner unserer Bucht auf den Abend vorbereiteten.  An einem dieser südfranzösischen Abende, nach dem Essen, brachen Motte und ich zu den Stranddiskotheken von Cavalaire auf. Mein Vater hatte mir den gemieteten Renault geliehen, und Vera sagte, fahr vorsichtig, als wäre sie meine Mutter. Wir trugen weiße Polohemden, Motte und ich, damit die Mädchen unsere Bräune sahen.  Die Diskotheken waren aus Holz, große Schuppen mit ein paar Pfählen und einem Strohdach darüber, etwas, das sich für die Saison aufbauen und danach leicht wieder abreißen ließ. Ein staubiger Sandweg führte zum Strand hinunter, und links und rechts hatte man die Wahl zwischen Discos, Kneipen und Crêpe- oder Pizzaständen. Wenn wir uns der Diskothekenzone auf einen Kilometer näherten, hörten wir schon das ferne Wummern der Bässe und den scheppernden Refrain der Sommerhits. Ich spürte sofort, wie mir die Musik ins Blut ging. Ich wusste, dass ich bei so einer Musik, selbst beim dümmsten Song, ein Mädchen in einer Ecke stehen sehen könnte, das zu mir herübersah, ein Lächeln andeutete und sich dann wieder ihrer Freundin zuwandte.  Doch irgendetwas schien Motte an diesem Abend nicht zu passen. Er stand da wie einer, der an der Kuchenvitrine ent

Schlagzeile

'Das alles hat Witz, ist mit Charme und Klugheit erzählt.' Der Spiegel