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Unerhörte Subjekte

Die Wahrnehmung sexueller Gewalt in Russland 1880-1910, Geschichte und Geschlechter 63

Erschienen am 07.11.2013, 1. Auflage 2013
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593399577
Sprache: Deutsch
Umfang: 359 S., 7 sw Abbildungen
Format (T/L/B): 2.1 x 21.3 x 14.1 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

InhaltsangabeInhalt Einleitung. 7 Spurensicherung - Sexuelle Gewalt in der Forschung. 14 Vergangenheit hören. 24 Vergangenheit als fremdes Land?. 32 Vergangenheit schreiben. 36 1. Ein geheimnisvoller Selbstmord: Der Fall Elizaveta Ceremnova 1882-1887 in Moskau. 44 Sexuelle Gewalt im russischen Recht. 52 Der Weg durch die Instanzen. 59 Theater und Hotel Ermitaz: Keine Orte für anständige Frauen. 66 Selbstmord als Ausdruck des Ichs. 81 Individuum und Recht. 87 2. An einem Sonntag im August: Der Fall Sarra Bekker und die Bedeutung des Hymens, 1883-1885. 100 Geschichten fur den Boulevard. 108 Wer ist schuld - 'Mironovic oder Semenova'?. 118 Wie viel Sexualität hat ein Kind?. 133 Die Gerichtsmedizin als objektiv(ierend)e Wissenschaft. 139 3. Der geschändete Körper als nationales Politikum: Der Fall Marija Spiridonova 1906. 166 Die Revolution von 1905 und (sexuelle) Gewalt. 172 Spiridonovas Brief. 181 Eine von uns. 189 Ikonographien sexueller Gewalt. 193 4. Französische Sitten in der russischen Hauptstadt? Sexuelle Gewalt an Kindern um 1908. 209 Der Umgang mit den Opfern. 214 Kinderprostitution. 224 Selbstmord. 239 Pornographie und die Ligen der freien Liebe. 250 5. Väter der Dekadenz: Die Wahrnehmung der Täter nach 1907. 259 Djulu: Held oder Simulant?. 262 Was ist das nur für ein Mensch? Psychologien pädophiler Täter. 271 Djulus Erben - eine privilegierte Gesellschaft. 286 Der feine Unterschied - sexueller Missbrauch in den städtischen Unterschichten. 295 Ganz wie im alten Rom - Dekadenz um 1910. 304 Schluss: Remember the future, imagine the past. 312 Quellen und Literatur. 329 Lasst hundert Blumen blühen. 357

Autorenportrait

Alexandra Oberländer, Dr. phil., ist assoziierte Wissenschaftlerin an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen und lehrt an der HU Berlin.

Leseprobe

Einleitung Das Wort "Frau" war mit glühenden Buchstaben in Pawels Gehirn eingebrannt; er sah es als erstes auf jeder neu aufgeschlagenen Seite; er hörte, wenn sich Leute leise unterhielten, wie sie das Wort "Frau" hinauszuschreien schienen - und es ward für ihn das unbegreiflichste, phantastischste und schrecklichste aller Wörter. Leonid Andreev, Im Nebel (1902) Marija Surovceva starb am 07. Oktober 1909, gegen sieben Uhr abends. Aus den Putilov-Werken am südwestlichen Stadtrand Sankt Petersburgs strömten die Arbeiter in die umliegenden Kneipen oder direkt nach Hause. Die Prostituierte Marija Surovceva und der Bauer Denisov hatten sich in einer Wohnung ganz in der Nähe der Werke zum Zechen getroffen. Denisov begann Surovceva zu belästigen, doch sie wollte sich auf seine Annäherungsversuche nicht einlassen. Zunächst konnte sie sich noch wehren, doch schließlich packte er sie, drehte ihr die Arme auf den Rücken und fesselte sie, dann griff er sich den Stiel eines Schrubbers und ungeachtet der verzweifelten Schreie Surovcevas, führte er ihr den Stiel immer wieder in ihre Geschlechtsorgane ein. Nicht das Stöhnen der Armen und auch ihr Flehen halfen nichts. Surovceva erlag ihren Verletzungen noch am Tatort; Denisov wurde verhaftet. Mehr erfahren wir aus dieser Meldung in der einschlägigen lokalen Boulevardzeitung Gazeta-kopejka vom 08. Oktober 1909 nicht. Wir wissen nicht, wer die Polizei verständigte. War es Denisov selbst? Gab es NachbarInnen, die Surovceva flehen, schreien und stöhnen hörten? Waren es womöglich diese NachbarInnen, die nicht selbst einschritten, sondern die Polizei riefen? Und wer war Denisov? Wir wissen lediglich, dass er "Bauer" gewesen war, ein Standesbegriff im ausgehenden Zarenreich, der nichts über Beruf, Herkunft oder Bildung aussagte. Und wer war Marija Surovceva? Welches Leben hatte sie gelebt? Arbeitete sie wirklich als Prostituierte? Oder legte vielmehr das Verbrechen, dessen Opfer sie geworden war, nahe, dass sie Prostituierte gewesen war? Würde man(n) eine keusche und moralisch integre Frau derart quälen? Wollte Denisov Surovceva bestrafen und wenn ja, wofür? Dafür, dass sie eine Prostituierte war, oder dafür, dass sie eine Frau war? War womöglich "Frau" auch für Denisov das schrecklichste aller Wörter? Wir wissen es nicht. Die Gazeta-kopejka ließ der ersten, relativ kurzen Meldung keine ausführlichere folgen. Was wir jedoch wissen, ist, dass die russischen Zeitungen am Beginn des 20. Jahrhunderts Sex & Crime-Geschichten im Überfluss zu bieten hatten. Die Zeitungsseiten seien "blutgetränkt", bemerkte der Kolumnist der Gazeta-kopejka Skitalec im Jahre 1913: Selbstmorde, Eifersuchtsdramen, Rowdytum (chuliganstvo), Raubüberfälle, Terrorismus und nicht zuletzt sexuelle Gewalt. Es verging keine Woche, in der die Zeitungen nicht von Vergewaltigungen oder sexuellem Missbrauch an Kindern berichtet hätten. Sexuelle Gewalt schien so sehr zu einem Phänomen des Alltags, so omnipräsent geworden zu sein, dass der liberale Arzt Dmitrij Zbankov im Sommer 1908 anfing, Fälle sexueller Gewalt zu zählen. Von Juni 1908 bis März 1909 kam Zbankov russlandweit auf 369 sexuelle Gewalttaten. Durchschnittlich ein Vorfall sexueller Gewalt pro Tag im riesigen Russländischen Imperium veranlasste Zbankov, von "traumatischen Epidemien" und von "sexuellen Bacchanalien" zu sprechen. Folgt man der Interpretation Zbankovs, hatte seit der Revolution von 1905 eine "Epidemie sexueller Entfesselung" Russland fest im Griff. Doch nicht nur das Ausmaß sexueller Gewalt erschütterte die ZeitgenossInnen. Auch wer vergewaltigt wurde, sorgte für Empörung. "Frauen werden vergewaltigt, Kinder, siebzigjährige Greisinnen und achtmonatige Babys". Der "Rekord" soll laut der Gazeta-kopejka die Vergewaltigung einer 103-Jährigen durch ihren Enkel gewesen sein. Nicht also nur die neu erreichte Quantität, sondern auch - wenn man so will - die Qualität sexueller Gewalt gab Anlass zur Sorge. Weibliche Personen, egal welchen Alters, waren v

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