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Bildungsoffensive.

P. Wilhelm Schmidt SVD in Ostasien (1935)

Erschienen am 01.12.2016
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783877105450
Sprache: Deutsch
Umfang: 360
Format (T/L/B): 23.0 x 16.0 cm

Beschreibung

VORBEMERKUNGEN Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Evangelisierung in Chi-na durch tiefgreifende Umbrüche und Verwerfungen, durch die in breiten Schichten der Gesellschaft sich vollziehende politische und sozio-kulturelle Neuorientierung wie auch durch das aggressiv fremden- und christenfeindliche Klima massiv erschwert. Die für das Missionswesen Verantwortlichen und sonstige einsichtsvolle Persönlichkeiten zeigten sich überzeugt, dass das Christentum in diesem Land nur dann eine Überlebenschance hatte, wenn die Kirche autonom, bodenständig verwurzelt und von einheimischen Kräften geleitet wurde. Um dieses Ziel zu erreichen und Akzeptanz zu gewinnen, bemühte man sich, bestehende Defizite auszumerzen, unbegründete Vorurteile der Chinesen abzubauen und den zu Recht reklamierten Forderungen möglichst gerecht zu werden. Man hoffte, dadurch deeskalierend zu wirken, Vertrauen zu begründen, ein besseres Image zu erreichen, Zugang zur geistigen Elite zu gewinnen und einen nachhaltigen Einfluss auf die chinesische Ge-sellschaft zu nehmen. Am 12. Juli 1912 wandten sich die chinesischen Katholiken Ma Xiangbo (1840–1939), ein ehemaliger Jesuit, und der renommierte Schriftsteller Ying Lien-chih (1866–1926) in einer eindringlichen Petition an Papst Pius X. (1903–1914), um ihn zu veranlassen, sich für ein stärkeres Engagement auf dem Bildungssektor in ihrem Land einzusetzen, damit die katholische Kirche, die als eine Institution von Bauern und Ungebildeten galt, ein höheres Ansehen in der chinesischen Gesellschaft erhielt. Beide machten sich mit ihrer Forderung nach Verbesserung der Ausbildung und Aufstiegschancen der einheimischen Theologen zugleich zu Anwälten des chinesischen Klerus. Das anvisierte Ziel sollte mit der Errichtung einer für Katholiken und Nichtkatholiken offenstehenden Uni-versität erreicht werden. Diese sollte ein landesweites Modell sein, eine Elite unter den Katholiken heranbilden und den christlichen Glauben bekannt machen. Um nationale und religiöse Sonderinteressen des Westens zu unterbinden, sollte bei den von Rom für das Lehrerkollegium zu entsendenden Personen darauf geachtet werden, dass sie aus verschiedenen Ländern und Ordensgemeinschaften stammten. Die Verfasser sahen in der europäisch-westlichen Kultur das allein wirksame Heilmittel gegen die in ihrem Land herrschende Unordnung und geistige Orientierungslosigkeit. Bedingt durch die Zeitverhältnisse unternahm der Vatikan vorerst keine Schritte in dieser Hinsicht. Um seinerseits auf dem Gebiet des Erziehungs- und Bildungswesens initiativ zu werden, eröffnete Ying Lien-chih noch im selben Jahr mit Unterstützung von Ma Xiangbo sowie den Lazaristen Lebbe und Cotta in den Westbergen bei Peking eine Privatschule, die Fu Ren She. In ihr sollte eine chinesische katholische Elite herangebildet werden. Wie die Zeichen fu ren signalisierten, ging das Programm der Fu-Ren-Schule über die reine Wissensvermittlung hinaus. Es diente der „Förderung der Humanität“ und hatte die geistig-moralische „Wiedergeburt Chinas“ zum anspruchsvollen Ziel. Zur Akademie, deren Gründung sich ausschließlich der Privatinitiative chinesischer Katholiken verdankte, waren lediglich katholische Studenten aus verschiedenen Landesteilen zugelassen. Von ihrer Errichtung an litt die Lehranstalt unter chronischem Geldmangel, so dass Ying Lien-chih sich 1918 zu ihrer Schließung genötigt sah. Der Wunsch nach einer höheren katholischen Bildungsanstalt blieb jedoch lebendig. Im Visitationsbericht des Bischofs von Guangzhou, Msgr. Jean-Bap-tiste Budes de Guébriant, über die Missionssituation in China, den er 1919 im Auftrag der Propagandakongregation erstellt hatte, wurden unter den Defiziten bei der Evangelisierung insbesondere das Fehlen höherer Bildungsstätten vermerkt: hier bestehe dringender Handlungsbedarf. Daraufhin bemühte man sich im Vatikan, Abhilfe zu schaffen. Im Oktober 1920 machte der Benediktiner-Oblate Dr. George Barry OToole von der Erzabtei St. Vincent in Latrobe, Pennsylvania, in Peking die Bekanntschaft von Ying Lien-chih. Dieser informierte ihn über sein Anliegen, eine katholische Universität gründen zu wollen, und fragte ihn, ob die amerikanischen Benediktiner dabei behilflich sein könnten. Er händigte OToole Kopien des Schreibens von 1912 an den Papst aus und seine Ermahnung zum Studium von 1917. Jener versprach, sein Möglichstes in der hochwichtigen Angelegenheit zu tun. Die Propaganda Fide verfolgte ihrerseits eine eigene Strategie. Ihr Sekretär, Erzbischof Pietro Fumasoni-Biondi, erkundigte sich im Dezember 1921 beim Abtprimas der Benediktinischen Konföderation Fide-lis Freiherrn von Stotzingen, ob St. Vincent in der Lage sei, die Verantwortung für dieses Projekt zu übernehmen. Erzabt Aurelius Stehle er-klärte auf Nachfrage, dass seine Abtei dies allein nicht vermöge. Da Papst Pius XI. (1922–1939) allergrößten Wert darauf legte, dass die amerikanischen Benediktiner sich dieser Aufgabe stellten, berieten im August 1923 die Äbte und Delegierten der zwölf Klöster der Amerika-nisch-Cassinensischen Benediktinerkongregation auf dem Generalkapitel in der St.-Procopius-Abtei in Lisle, Illinois, über diese gewaltige Herausforderung. Man betraute schließlich die Erzabtei St. Vincent mit der Ausführung des Projekts und versicherte sie der Unterstützung „both moral and physical“. Mit Reskript vom 27. Juni 1924 errichtete der Heilige Stuhl die vor-gesehene Bildungsanstalt in Peking als Päpstliche Universität – sie genoss folglich Roms besondere Protektion – und verlieh dem Erzabt von St. Vincent sämtliche Vollmachten bei der Ernennung der Lehrkräfte und inhaltlichen Gestaltung der Studiengänge. Idealtypisch betrachtet sollte die Hochschule eine Synthese von katholischer und chinesischer Gedankenwelt zu schaffen suchen, aus der ein erneuertes China er-wachsen könnte. Die Erziehungsarbeit wies dementsprechend über den reinen Wissenstransfer hinaus: unter katholischen Vorzeichen strebte sie die charakterliche Formung der Studierenden an. Dem patriotischen Mainstream folgend, sollte sie auch zur Bildung eines nationalen Bewusstseins beitragen. Mitte Januar 1925 ernannte P. Stehle, inzwischen Abtprimas, in seiner Eigenschaft als Großkanzler der Katholischen Universität von Peking – so ihr offizieller ausländischer Titel – OToole zum Rektor und Ying Lien-chih zum Studiendirektor. Anfang Februar reisten Großkanzler und Rektor nach Peking, um die anstehenden Obliegenheiten vor Ort zu regeln. Ein vorrangiger Punkt betraf das Grundstück, auf dem die Bildungsstätte zu errichten war. Dank großzügiger Spenden in Amerika und China gelang es im März 1925, den Tao-Beile-Palast zu erwerben, das Winterpalais des Mandschu-Prinzen Zai-Tao, Onkel des letzten abgesetzten Kaisers: ein insgesamt nahezu 42 Hektar großes Areal mit 350 Räumen in weitläufigen Gebäuden, Tempeln, Pavillons, großzügigen Hof- und Gartenanlagen. Das gesamte Anwesen war im eleganten chinesischen Stil gehalten. Man einigte sich darauf, keine baulichen Veränderungen vorzunehmen, sondern alles nur zu renovieren und zu restaurieren. Die Gebäude wurden für den Lehrbetrieb hergerichtet mit Hör- und Speisesälen, Studienräumen, Laboratorien und Bibliothek sowie einem Klausurtrakt für die Ordensgemeinschaft. Studiendirektor Ying Lien-chih entwarf einen zweijährigen Lehr-plan, der die Fächer Chinesische Literatur, Geschichte und Philosophie umfasste. Die Bildungsanstalt diente der Vorbereitung auf den projektierten Ausbau zur Universität mit fünf Fakultäten: Theologie, Philosophie, Chinesische Studien, Freie Künste und Literatur, Naturwissen-schaften, sowie mit zwei Sekundarschulen als Präparatorien. Die formelle Eröffnung der Vorbereitungsschule fand am 1. Oktober 1925 statt. Am 29. Juli 1927 erhielt die Bildungsanstalt die vorläufige Anerkennung und das Recht, den chinesischen Titel Fu Ren Daxue, Fu-Jen-Universität, zu führen. Die Fu Jen hatte sich im Großen und Ganzen gut entwickelt, aber im dritten Jahr ihres Bestehens sahen sich die Verantwortlichen zusehends mit schwerwiegenden personellen und finanziellen Problemen konfrontiert. Im Dezember 1932 war schließlich die Finanzlage der Fu Jen hoffnungslos. Infolge der Weltwirtschaftskrise verlor der US-Dollar kontinuierlich an Wert, die Kosten in Peking waren sprunghaft gestiegen. Trotz größter Anstrengungen in Amerika konnten die dringend benötigten Gelder nicht aufgebracht werden. Die Weiterführung der Uni-versität war daher ernstlich gefährdet. Ende Oktober 1932 brachte Erzabt Alfred Koch diese schmerzliche Einsicht dem Heiligen Stuhl zur Kenntnis. Dieser bemühte sich um einen Ausweg aus der Krise. In intensiven Konsultationen und langwierigen Verhandlungen mit kurialen Stellen reifte der Entschluss, die Universität einer Ordensgemeinschaft zu übertragen, die über größere materielle und personelle Ressourcen verfügte. Nach eingehenden Sondierungen und Besprechungen entschied man sich für die Steyler Missionsgesellschaft. Am 29. April 1933 teilte der Heilige Stuhl Generalsuperior Josef Grendel den offiziellen Beschluss mit. Die Fu-Jen-Universität und die ihr angeschlossenen Institute sowie je eine Mittelschule für Jungen und für Mädchen wurden formell der Steyler Missionsgesellschaft übertra-gen. Die Universität besaß damals drei Fakultäten: Naturwissenschaften, Literatur und Pädagogik. Generalsuperior Grendel wurde im Dekret vom 5. August 1933 vom Papst zum Großkanzler ernannt. Die Steyler Generalleitung sah sich vor gewaltige technische, organisatorische, finanzielle und personelle Probleme gestellt. Die Zusammenstellung des Lehrkörpers und Verwaltungspersonals verursachte beträchtliches Kopfzerbrechen. Bis zur Eröffnung des Lehrbetriebs im Herbst 1933 galt es vieles zu erledigen. Trotz ungelöster Personalfragen und technischer Schwierigkeiten konnte am 25. September 1933 die Inauguration des Studienjahres zeitgerecht erfolgen. Dies war namentlich dadurch möglich geworden, dass das frühere Personal, Chinesen wie Ausländer, in enger Kooperation alles daransetzte, die Lehrveranstaltungen rechtzeitig und in Einklang mit den Verordnungen des chinesischen Unterrichtsministeriums weiterzuführen. Der organisatorische Ausbau schritt insgesamt zügig voran. Aus verschiedenen Provinzen und Regionen der Steyler Arbeitsgebiete wurden Patres und Brüder für den Unterricht oder die Verwaltung an die Universität geschickt. Sie kamen aus Nordamerika, Brasilien, China, Deutschland, den Niederlanden, Japan und Österreich. Die finanzielle Lage bereitete der Generalleitung in einer Zeit, in der sämtliche Orden in Deutschland sich einem ständig wachsenden Druck durch die natio-nalsozialistische Regierung ausgesetzt sahen, enormes Kopfzerbrechen. Im Frühjahr 1935 trat P. Wilhelm Schmidt SVD, Ethnologe, Religions- und Sprachwissenschaftler von Weltruf, eine längere Reise an, die ihn über Nordamerika und Japan nach China führte. In Peking sollte er sich im Auftrag des Generalsuperiors einen genauen Überblick über die Lage der Katholischen Universität verschaffen: eklatante Mängel er-mitteln, Vorschläge machen für den Ausbau der Studiengänge und Forschungsinstitute, für die Berufung zusätzlicher kompetenter Lehrkräfte und für einen entsprechenden Finanzierungsplan. Noch am Abend seiner Ankunft in Peking am 18. Mai 1935 hielt P. Schmidt mit seinen Mitbrüdern eine Konferenz über universitäre Belange. Es folgten weitere Beratungen über aktuelle Probleme und Angelegenheiten der Fu Jen. Die an ihr angestellten Mitbrüder ersuchte P. Schmidt, während der Sommerferien sich Gedanken darüber zu machen und diese bis zum Beginn des Wintersemesters Ende September schriftlich zu fixieren. Diese Überlegungen und Anregungen stellte er an-schließend zusammen. Diese und seine eigenen Vorstellungen fanden ihren Niederschlag in der „Denkschrift zur Ausgestaltung der Katholischen Fu-Jen-Universität in Peking“, der sechs Beilagen angefügt waren. Zentrale Anliegen waren der rasche Ausbau der Universität, die Erweiterung der Curricula und des Lehrkörpers, die Frage der dringend benötigten Finanzmittel sowie Bemerkungen zur Glaubensverkündigung vor allem unter den Gebildeten und im urbanen Umfeld. Nach seiner Rückkehr Mitte Dezember 1935 erstattete er Pius XI. und dem Generalat ausführlich Bericht. Anschließend suchte P. Schmidt mit stupendem Engagement geeignete Lehrkräfte für die Fu-Jen-Universität zu gewinnen. Seine ursprüngliche Bildungskonzeption erweiterte er dabei beträchtlich. Da er bei seinem Bemühen um die Profilierung der Universität meist ohne Rücksprache mit den Verantwortlichen in Peking vorging, diesen seine Pläne als Conditio sine qua non präsentierte, bei relevanten Sachverhalten über ihre Köpfe hinweg entschied und sich zuletzt eine Verständigung nicht erreichen ließ, war mit der Ablehnung seiner Pläne hauptsächlich aus finanziellen Gründen der Konflikt vorprogrammiert. Die unerquicklichen Querelen zogen sich über Monate hin. In ihrem Fokus befand sich der Rektor der Fu Jen, P. Schmidts früherer Schüler P. Rudolf Rahmann. Bei dieser Auseinandersetzung machte sich das Generalat die Gründe, Bedenken und Einwände der Universitätsleitung zu eigen. Das anspruchsvolle wie ehrgeizige Programm von P. Schmidt scheiterte an der Realität. Für vorliegende Abhandlung sind zahlreiche bislang unbekannte und nicht publizierte Schreiben der handelnden Akteure, Aufzeichnungen und Dokumente herangezogen und ausgewertet worden. Auf diese Weise erhält man neue und aufschlussreiche Einblicke in viele Vorgänge, Sachverhalte und Details sowie in die komplexe Gemengelage und diffizilen Entscheidungsprozesse im Zusammenhang mit der Übernahme der Fu-Jen-Universität durch die Steyler Missionsgesellschaft. Mir bleibt zum Schluss die angenehme Pflicht, Personen zu danken, die mir beim Anfertigen des Manuskripts tatkräftig geholfen haben. Ein besonderes Dankeschön gilt meinem Mitbruder P. Dr. Herbert Scholz beim Steyler Generalat in Rom. Ohne seine zuvorkommende und stete Bereitschaft, einschlägige von mir erbetene Schriftstücke im Archiv zu suchen, zu kopieren und zu schicken, hätte vorliegende Arbeit nicht erstellt werden können. Ein großer Dank gebührt weiter Frau Resi Pi-cker in Münster für das gewissenhafte Transkribieren etlicher hand-schriftlicher Dokumente. Nicht zuletzt danke ich sehr herzlich Frau Angelika Striegel, ehemalige Bibliothekarin im Steyler Missionswissenschaftlichen Institut in Sankt Augustin, für die sorgfältige Korrektur und stilistische Verbesserung des Manuskripts, ferner P. Dr. Zbigniew Wesołowski, Chefredakteur der Monumenta Serica, für das Schreiben der chinesischen Zeichen, sowie in besonderer Weise Frau Martina Ludwig, Sekretärin im Steyler Missionswissenschaftlichen Institut in Sankt Augustin, für die akribische Fertigstellung der Arbeit. Karl Josef Rivinius SVD