0
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783886807321
Sprache: Deutsch
Umfang: 224 S.
Format (T/L/B): 2.3 x 22.3 x 14.5 cm
Einband: Leinen

Beschreibung

1949 entstanden aus dem Deutschen Reich zwei Republiken. Der tiefste Einschnitt in unserer Geschichte führte uns hart an eine Stunde Null. Für vier Jahrzehnte war die Teilung Deutschlands und Europas besiegelt. Der Autor schildert aus eigenen Begegnungen die führenden Persönlichkeiten. Eingehend untersucht er Kontinuitäten und neue Anfänge im politischen Personal, in der Verfassung und in den Institutionen von Staat und Gesellschaft und setzt sich mit dem Vorwurf des restaurativen Charakters auseinander.Mit 1969, dem ersten Jahr eines sozialdemokratischen Kanzlers, verbindet der Autor die Frage nach einem Neubeginn im Inneren. Die neue Ostpolitik war eine zweite tiefe Zäsur der Nachkriegsgeschichte. Es ging um Entspannung zwischen Ost und West unter deutscher Anleitung. Richard von Weizsäcker gehörte zur verschwindenden Minderheit seiner Partei, der damaligen Opposition, die diesen Kurs nachhaltig unterstützte. Sein Herzensanliegen war von jeher die Aussöhnung mit Polen. 1989 kam der Kalte Krieg zu seinem Ende. Als erstes Staatsoberhaupt des geeinten Deutschland hat Richard von Weizsäcker diesen fundamentalen Neubeginn mitgestaltet. Erneut analysiert der Autor Kontinuität und neuen Anfang, Erfolge, Gefahren und Versäumnisse des Einigungsprozesses. Wo es ihm erforderlich schien, hat er Differenzen mit der damaligen Regierung unter Helmut Kohl nicht gescheut. Er bewertet die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Arbeit der Institutionen unserer Verfassung, die Dominanz der politischen Parteien und die Leistungen und Fehlleistungen im Machtkampf der demokratischen Politiker. Das Ziel ist die Vollendung ganz Europas ohne das bisher alleinige Präfix 'West'. So gibt er Antworten auf die dreifache Frage nach der Stunde Null und nach den Kontinuitäten in der geistigen und politischen deutschen Geschichte unserer Zeit.

Autorenportrait

Richard von Weizsäcker wurde 1920 in Stuttgart geboren. Nach einer erfolgreichen Karriere in der Industrie war er von 1981 - 1984 Regierender Bürgermeister von Berlin und von 1988 - 1994 Präsident der Bundesrepublik Deutschland. Er war der deutsche Bundes

Leseprobe

Die Null wurde im fünften Jahrhundert durch Inder eingeführt. Sie wanderte weiter nach China, später nach Arabien. Von dort erreichte sie uns Europäer im Mittelalter. Wir verwenden sie auf vielfache Weise, in der Mathematik, als Normal-Null zur Höhenmessung, in der Thermometerskala als Nullpunkt, für Nullsummen-Spiele oder gar im übertragenen Sinn für ein Herzensthermometer, das auf Null stehen kann. Religionen und traditionsempfindende Gesellschaften beschäftigen sich mit der Herkunft von Mensch und Welt. Ursprungserzählungen finden sich bei den indischen Upanischaden, im Gilgamesch-Epos, in Schöpfungs- und Paradiesschilderungen. Offenbarungsreligionen haben und hüten einen Beginn. Das gilt für die vedische und die Zarathustra-Religion, ist so im Judentum, auch im Christentum und im Islam. Die Null markiert den Anbruch eines neuen Zeitalters mit seinem Ursprung von Glaube und Lehre, vielleicht auch von Ordnung und Herrschaft. Vom Umgang der Wissenschaften mit den Ursprüngen sei hier nicht die Rede, sondern von der politischen Geschichte. Dort stoßen wir mit höchst unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Empfindungen auf die Null. Sie kann das Gefühl eines unwiderruflichen Zusammenbruchs ausdrücken, ein Verlangen nach vollkommenem Auslöschen erlebter Geschehnisse. Oder es ist die Gewissheit eines neuen Anfangs. Revolutionen markieren mit Vorliebe den Anbruch eines neuen Zeitalters durch eine eigene Zeitrechnung. Im Zuge der Französischen Revolution galt 1792 als das Jahr Eins. Am ersten Abend der Pariser Julirevolution 1830 wurde - Walter Benjamin hat daran erinnert - auf die Turmuhren geschossen: ein Stopp-Befehl an die alte Zeit, ein neuer Beginn bei Null. Schon zuvor hatte die amerikanische Revolution auf die Vergilsche Formel von der neuen Ordnung der Zeitalter, dem novus ordo saeculorum, zurückgegriffen, mit der die Regierung des Augustus gefeiert wurde. Immer wieder ist von einer Stunde Null die Rede, weil sie von uns Menschen im Leben und Zusammenleben so empfunden wird. Es kann so tiefe Abstürze oder einen so radikal neuen Anfang geben, dass wir keine Orientierung vorfinden oder dass wir sie neu schaffen müssen und wollen. Dennoch hat jede Geschichte ihre Vorgeschichte. Im historischen Sinne gibt es nichts dem religiös geglaubten oder dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Nullpunkt Vergleichbares. Alle Gegenwart folgt aus einer Vergangenheit. Darüber gibt es keinen Streit. Zur Debatte steht aber das Maß an Abbruch oder Kontinuität. Generationenfolge ist zunächst Kontinuität. Leben wird gegeben, Erfahrung angeboten. Für eine zivilisatorische Entwicklung ist dies lebensnotwendig. Allen Rückschlägen zum Trotz ringen wir uns vorwärts von der Wolfsnatur zu Friedensregeln, von mauerbefestigten zu offenen Städten. Es gibt tragende, positive, entwicklungsoffene Kontinuitäten, aber auch niederziehende, stickige, reaktionäre oder restaurative. Für eine neue Generation beginnt die Welt zunächst von vorn. Sie will kein Austauschmotor in einem vorfabrizierten Gehäuse sein. Es sind ihre eigenen Grundstimmungen, ihre Probleme, ihre Zeitgenossenschaft, die sie steuern werden. Gleichwohl wird sie der Kontinuitäten gewahr werden, die sie vielleicht als bewahrenswert zu empfinden lernt oder die sie verändern und abbrechen will. Sie kann selbst spüren, dass Erinnerung ausschlaggebend für sie ist: Ich war schon vor mir da, also bin ich. Dabei wird sie entdecken können, dass ihre heutigen Herausforderungen und Chancen auf wundersamen, einst unvorstellbaren Entwicklungen beruhen. So ist es mir selbst in einem langen Leben ergangen. Was ich hier berichte, sind keine Ergebnisse wissenschaftlicher Quellenforschung. Ich bin kein Historiker, sondern Politiker. Vielmehr beschreibe ich die Entwicklungen so, wie ich sie als Zeitgenosse unmittelbar erlebt habe. Es waren für uns alle und auch für mich ganz unterschiedliche Lebensabschnitte. 1949 war ich beim Abschluss meiner Berufsausbildung als junger Strafverteidiger tätig. 1969 war ich f