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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446199866
Sprache: Deutsch
Umfang: 424 S., mit zahlreichen Textabbildungen
Format (T/L/B): 3.1 x 21 x 13.5 cm
Einband: Leinen

Beschreibung

Wer ist Austerlitz? Ein rätselhafter Fremder, der immer wieder an den ungewöhnlichsten Orten auftaucht: am Bahnhof, am Handschuhmarkt, im Industriequartier. Und jedes Mal erzählt er ein Stück mehr von seiner Lebensgeschichte, der Geschichte eines unermüdlichen Wanderers durch unsere Kultur und Architektur und der Geschichte eines Mannes, dem als Kind Heimat, Sprache und Name geraubt wurden.

Autorenportrait

W. G. Sebald, geboren 1944 in Wertach, starb 2001 in England. Bei Hanser erschienen zuletzt Luftkrieg und Literatur (1999), Austerlitz (Roman, 2001), Unerzählt (2003, mit Bildern von Jan Peter Tripp), Campo Santo (2003) und Über das Land und das Wasser (2008).

Leseprobe

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bin ich, teilweise zu Studienzwecken, teilweise aus anderen, mir selber nicht recht erfindlichen Gründen, von England aus wiederholt nach Belgien gefahren, manchmal bloß für ein, zwei Tage, manchmal für mehrere Wochen. Auf einer dieser belgischen Exkursionen, die mich immer, wie es mir schien, sehr weit in die Fremde führten, kam ich auch, an einem strahlenden Frühsommertag, in die mir bis dahin nur dem Namen nach bekannte Stadt Antwerpen. Gleich bei der Ankunft, als der Zug über das zu beiden Seiten mit sonderbaren Spitztürmchen bestückte Viadukt langsam in die dunkle Bahnhofshalle hineinrollte, war ich ergriffen worden von einem Gefühl des Unwohlseins, das sich dann während der gesamten damals von mir in Belgien zugebrachten Zeit nicht mehr legte. Ich entsinne mich noch, mit welch unsiche- ren Schritten ich kreuz und quer durch den inneren Bezirk gegangen bin, durch die Jeruzalemstraat, die Nachtegaalstraat, die Pelikaanstraat, die Paradijsstraat, die Immerseelstraat und durch viele andere Stra- ßen und Gassen, und wie ich mich schließlich, von Kopfschmerzen und unguten Gedanken geplagt, in den am Astridplein, unmittelbar neben dem Zentralbahnhof gelegenen Tiergarten gerettet habe. Dort bin ich, bis es mir ein wenig besser wurde, auf einer Bank im Halbschatten bei einer Vogelvoliere gesessen, in der zahlreiche buntgefiederte Finken und Zeisige herumschwirrten. Als der Nachmittag sich schon neigte, spazierte ich durch den Park und schaute zuletzt noch hinein in das erst vor ein paar Monaten neu eröffnete Nocturama. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Augen sich an das künstliche Halbdunkel gewöhnt hatten und ich die verschiedenen Tiere erkennen konnte, die hinter der Verglasung ihr von einem fahlen Mond beschienenes Dämmerleben führten. Ich weiß nicht mehr genau, was für Tiere ich seinerzeit in dem Antwerpener Nocturama gesehen habe. Wahrscheinlich waren es Fleder- und Springmäuse aus Ägypten oder aus der Wüste Gobi, heimische Igel, Uhus und Eulen, australische Beutelratten, Baummarder, Siebenschläfer und Halbaffen, die da von einem Ast zum anderen sprangen, auf dem graugelben Sandboden hin und her huschten oder ge- rade in einem Bambusdickicht verschwanden. Wirklich gegenwärtig geblieben ist mir eigentlich nur der Waschbär, den ich lange beobachtete, wie er mit ernstem Gesicht bei einem Bächlein saß und im- mer wieder denselben Apfelschnitz wusch, als hoffe er, durch dieses, weit über jede vernünftige Gründ- lichkeit hinausgehende Waschen entkommen zu können aus der falschen Welt, in die er gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun geraten war. Von den in dem Nocturama behausten Tieren ist mir sonst nur in Erinnerung geblieben, daß etliche von ihnen auffallend große Augen hatten und jenen unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. Im übrigen ging mir, glaube ich, damals die Frage im Kopf herum, ob man den Bewohnern des Nocturamas bei Einbruch der wirklichen Nacht, wenn der Zoo für das Publikum geschlossen wird, das elektrische Licht andreht, damit sie beim Aufgehen des Tages über ihrem verkehrten Miniaturuniversum einigermaßen beruhigt in den Schlaf sinken können. - Die Bilder aus dem Inneren des Nocturamas sind in meinem Gedächtnis im Laufe der Jahre durcheinandergeraten mit denjenigen, die ich bewahrt habe von der sogenannten Salle des pas perdus in der Antwerpener Centraal Station. Versuche ich diesen Wartesaal heute mir vorzustellen, sehe ich sogleich das Nocturama, und denke ich an das Nocturama, d Leseprobe