Beschreibung
Bedeutete der Erste Weltkrieg einen tiefen Einschnitt im Gedächtnis der
europäischen Nationen, so gilt dies noch mehr für das deutsche Judentum.
Entgegen der zu Kriegsbeginn ausgegebenen Parole vom „Burgfrieden“ sorgten
antisemitische Verbände für die Verbreitung judenfeindlicher Schriften,
die im nichtjüdischen Bürgertum auf erhebliche Resonanz stießen und die
bereits weit fortgeschrittene Integration des jüdischen Bürgertums in die wilhelminische
Gesellschaft in Frage stellten. Wie haben jüdische Intellektuelle
auf diese nachhaltige Erfahrung der Anfeindung und Ausgrenzung reagiert?
Der Autor entwickelt auf diese Frage eine differenzierte Antwort, indem er
prominente jüdische Stimmen von Walther Rathenau und Franz Kafka bis Martin
Buber und Leo Baeck zu Wort kommen läßt und im Kontext des sich verschärfenden
Meinungsklimas interpretiert. Resignation und schwindendes
Vertrauen in den Staat zum einen, die bewußte Abkehr vom Ideal der deutschjüdischen
Kultursymbiose und die Besinnung auf die eigene jüdische Identität
zum anderen waren, so Ulrich Siegs Diagnose, einige charakteristische
Folgerungen, mit denen jüdische Gelehrte, Schriftsteller und Journalisten der
für sie besonders bedrohlichen Krise der bürgerlichen Welt zu begegnen
suchten.
Dem hier veröffentlichten Text liegt ein Referat zu Grunde, das Ulrich Sieg am
2. März 2000 in der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus im Rahmen
der Reihe „Himmelsberg-Vorträge“ gehalten hat.
Autorenportrait
Ulrich Sieg, 1960 in Lübeck geboren, studierte Geschichtswissenschaft, Philosophie
und Germanistik an den Universitäten Kiel, Hamburg und Marburg.
Nach seiner Promotion an der Universität Marburg 1993 arbeitete er dort als
Lehrbeauftragter am Fachbereich Geschichtswissenschaft. 1999 wurde er mit
dem Thema „Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen,
weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe“ in Marburg habilitiert
und dafür im September 2000 mit dem Preis des Verbandes der Historikerinnen
und Historiker Deutschlands für hervorragende Leistungen des
wissenschaftlichen Nachwuchses ausgezeichnet. Ulrich Sieg veröffentlichte
zahlreiche Studien zur Universitätsgeschichte, zur Geschichte des Neukantianismus
und zur deutsch-jüdischen Geschichte im Deutschen Kaiserreich.